Christoph Schütte

Christoph Schütte,
lebt und arbeitet in Frankfurt/M.
als freier Journalist (u. a. für die FAZ) und Autor.

„Welche Geduld, welche Zärtlichkeit verlangt die Kunst! Nichts ohne Arbeit!“
Auguste Rodin

 Studien zur Kunst oder Ich bin noch nicht fertig

 Damit muss man sich als Besucher erst einmal abfinden. Dass nämlich Hermann Wieliczek, steigt man mit ihm die Treppen zu seinem Atelier hinauf, kein Wort verliert über das eine oder andere seiner teils gewaltigen hier an den hohen Wänden hängenden Bilder, sondern nur Augen hat für die Arbeiten anderer, teils bekannter, teils weniger bekannter, figürlicher gerade wie abstrakter Künstler. Dass Bücher, Monografien und Ausstellungskataloge auch von Malern und Bildhauern in seinem Studio weit mehr Raum einnehmen, als er sich selbst für seine eigene Arbeit zugesteht.

Und dass er schließlich, kaum ist man erst noch schnaufend, bald schon überrascht, dann staunend oben angekommen und umringt von kleineren und größeren, mitunter wandfüllenden Formaten, von Arbeiten auf Karton und Holz, auf Leinwand und Papier, dass also Wieliczek zunächst und ein für allemal doch bitte klarzustellen sich genötigt sieht: „Ich bin ja gar kein Maler.“ Ja, er könne überhaupt nicht malen. Und wer weiß, womöglich stimmt das auch, definiert man Malerei, wie wir sie aus unserer eigenen Schulzeit kennen.

Damals gab es welche, die konnten mit ihren Wasserfarben einen Baum, ein Auto, vielleicht gar eine Landschaft malen, dass es aussah, wie ein Baum, ein Auto, eine Landschaft eben aussehen sollen. Und andere, die konnten dergleichen auch noch Jahre später nicht. Keine Ahnung, zu welcher Richtung Hermann Wieliczek gehörte, wiewohl er als Architekt, der er fast ein Leben lang gewesen ist, unweigerlich zumindest mit Papier und Bleistift umgehen kann. Und ein großer Zeichner, daran lässt sein im engeren Sinne grafisches Werk keinen Zweifel, ein großartiger Zeichner also ist er ohnehin.

Für die Kunst aber soll all das erstmal keine Rolle spielen. Auch vor so manchen Bildern von Piet Mondrian, von Piero Dorazio oder Adolf Fleischmann, um nur drei jener namhaften Künstler zu nennen, die sein im weiteren Sinne konstruktiv-konkretes Werk nachhaltig beeinflusst und die eine oder andere Spur auch hinterlassen haben, auch hier also könnte, wenn man es nicht besser wüsste, man bisweilen durchaus zweifeln, ob sie in diesem banalen, geradezu trivialen Sinne malen konnten. Und was das uns, so oder so, denn sagen will.

Dass er seine Bilder ausnahmslos „Studien“, nie Gemälde, Bilder oder Malerei nennt – von Kunst zu schweigen -, unterstreicht derweil noch diesen von Bescheidenheit, aber auch von stetem Zweifel nicht am künstlerischen Tun, aber doch am eigenen Schaffen gelenkten Blick auf das eigene Werk. Dabei zeigen schon die frühen, noch gegenständlichen Landschaften und Stillleben der fünfziger Jahre ein Interesse an Farbe und Form, an Fläche und Raum, Ordnung und Chaos und Rhythmus und Bewegung mehr als an der äußeren Welt.

Bis in die frühen sechziger Jahre scheint das noch primär ein Suchen, ein Aus-, womöglich auch ein Anprobieren gleichsam eines vorgefundenen Vokabulars und eines Stils. Bald schon aber tritt mit den ersten „Studien“ und in Anlehnung an Mondrian das Raster als grundlegendes Organisationsprinzip hinzu und kann man darüber hinaus beinahe zusehen, wie zugleich die Bedeutung der und das Interesse an der Farbe und am Kolorit sichtlich wächst, gleich ob in den ungemein dichten Kugelschreiber-Arbeiten auf Karton oder den ersten Acrylbildern, den Pastellen wie den Arbeiten in Ölkreide.

Spätestens in den siebziger Jahren freilich findet er seinen eigenen Weg, verabschiedet er sich vom quadratischen als dem allein gültigen Format einerseits, dem ausschließlich auf das Quadrat als konstruktivem Element verweisenden Vokabular andererseits. Vielmehr kommt mit einemmal Bewegung in die Sache, überlagern sich die geometrischen Farbfelder, scheinen die zuvor fest gefügten Formen zunächst auf der Stelle zu vibrieren, werden alsbald gedehnt und komprimiert, fügen sich zu op-artigen, Format für Format seriell verhandelten Impulsen, Rhythmen, Farbeffekten und richtet sich Wieliczeks Malerei als solche sichtlich polyzentrisch aus.

Mitunter legt der Künstler gar noch Licht- und Schattenkorridore über die Komposition, und doch herrscht stets Ordnung, nie Chaos in diesen Bildern, und spürt man als Betrachter die künstlerische Präzision und Disziplin, die ein derart konzentriertes Vorgehen erfordert. Manche Arbeiten mag man zeitlos nennen, die meisten auch der älteren Formate überraschend frisch und das Gesamtwerk auch und gerade nach dem Ende aller Avantgarden alles andere als obsolet und nicht mehr relevant. Das genaue Gegenteil ist hier der Fall.

Landschaften aber mag man insbesondere die großen Formate noch immer nennen, auch wenn wir keine Berge, Flüsse oder Täler sehen, sondern wesentlich abstrakte, womöglich inneren Befindlichkeiten abgeschaute Wirklichkeiten. Womit wir wieder auf der Treppe und im Atelier des Künstlers wären.

Denn nicht etwa im großen, lichtdurchfluteten Studio des Architekten entstehen diese Bilder, sondern in einer Kammer, in der kaum mehr Platz findet als ein Tisch, ein Stuhl und eine Auswahl Pinsel, dazu Lösungsmittel und Pigmente, die Farben anzurühren. Und man kommt angesichts der ungeheuer dichten konzentrierten Atmosphäre kaum umhin, von einem Studierzimmer, einem Skriptorium vielleicht statt von einem Maleratelier zu sprechen. Nur dass hier nicht sakrale Texte studiert, kopiert und womöglich illustriert werden, sondern Wiederholung, Rhythmus, der Prozess im Grunde selbst schon alles sind. Form wie Inhalt.

Sie male mit dem Rücken zur Welt, hat die große Agnes Martin ihr Werk einmal charakterisiert, und steht man vor den Arbeiten Wieliczeks, glaubt man wo nicht zu verstehen, so doch wenigstens zu ahnen, was das heißt. Mag sein, das hat sich für ihn bloß umständehalber so ergeben, doch scheint es in der Tat, als habe er in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nur für sich und gleichsam in meditativer Zurückgezogenheit gemalt.

Eine Frage der Haltung, möchte man das nennen. Weitgehend unbemerkt, aber auch unbeeindruckt vom Kunstmarkt, seinen Aufgeregtheiten und seinen Eitelkeiten ist hier in den vergangenen Jahrzehnten ein im besten Sinne eigenwilliges, ganz auf das künstlerische Tun konzentriertes Werk entstanden, das von seiner Aktualität und Frische nichts eingebüßt hat, im Gegenteil. Das Potential der Kunst scheint unerschöpflich, die Entwicklungsmöglichkeiten unbegrenzt.

„Ich bin noch nicht fertig“, sagt denn auch Wieliczek und zieht sich, statt auch nur eines seiner Bilder zu veräußern oder doch wenigstens gelegentlich das eine oder andere öfter einmal auszustellen, lieber in sein Atelier zurück. Und so entsteht weiter Blatt um Blatt, Leinwand auf Leinwand, „Studie“ um „Studie“ mithin und, Hermann Wieliczek möge mir verzeihen, doch endlich Bild um Bild. Das ist die ganze Kunst. Und darauf kommt es an.

Martin Mosebach

Martin Mosebach, geboren in Frankfurt/M.,
lebt dort nach Studium der Rechte seit 1980 als Schriftsteller;
er ist Mitglied
der Deutschen Akademie in Sprache und Dichtung,
der Bayerischen Akademie der schönen Künste,
der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg,
seit 2007 ist er Träger des Büchner-Preises.

Betrachtungen zum malerischen Werk von Hermann Wieliczek

I

Verwandlung der Farbe, das ist von Anbeginn das große Arkanum der Malerei. Die Farbe in ihrem Rohzustand – ob, wie früher üblich, selbst gerieben und angerührt, ob, wie heute, im Geschäft in der Tube als Industrieprodukt erworben – sie ist dazu berufen, etwas anderes zu werden, wenn sie mit dem Pinsel auf die Leinwand, die Mauer, den Karton aufgetragen wird. Und dabei sind die Farben der Maler ja eben nicht reine, von der Materialität ihrer Herkunft unabhängige Substanzen, sondern sie tragen die Eigenschaften der Stoffe, aus denen sie gemacht sind, mit sich: die organischen wie das Ochsenblut und das Eigelb, die verschiedenen Erden von Siena über Ocker bis zum Umbra, deren Namen schon auf die Landstriche zeigen, wo sie einst gewonnen wurden, bis zu den Mineralien und Metallen, von Lapislazuli und Kupfervitriol, und die industriell gefertigten modernen Acryl-Farben bewahren diese Erinnerungen an den Schwefel und den Ruß, an Blei und an die Pflanzen, denen die Maler der Vergangenheit ihre Farben abgewonnen haben.

Man könnte jedes Bild, gleich welcher Kunstepoche es entstammt, mit dem unverwandten Blick, der sich von dessen figurativen Elementen nicht ablenken lässt, ebenso gut als eine Intarsie begreifen, in der organische und anorganische Substanzen in einem alchemistischen Prozess zu einer neuartigen unlösbaren Verbindung gelangt sind:

Der Begriff der Alchymie fällt hier nicht zufällig.

Malerei ist den Zielsetzungen der Alchymie urverwandt und vielleicht sogar die Form, in der die in der Geschichte gescheiterte eigentliche Alchymie weiterlebt und zu jenen Erfolgen gelangt, die der historischen Alchymie versagt blieben. Auch bei ihr ging es um Verwandlung der Materien, um Veredelung des Wertlosen zum unendlich Kostbaren, zum Gold-machen aus Dreck, schließlich zur Erschaffung von Leben aus dem Toten.

 Die Verwandlungen der Farben auf figurativen Bildern ist zunächst ganz offensichtlich – in der Fortentwicklung der Ölmalerei vor allem wurde den Farben zur Aufgabe gemacht, den Charakter jeder erdenklichen Substanz anzunehmen, von den unbelebten, den Stoffen, Holz, Eisen, Pelzen, Glas und Perlen, bis hin zur hohen Schule der Malerei, der Nachschöpfung der menschlichen Haut, der Augen, der speichelbetauten Lippen, des glänzenden Haares. Manche Maler haben die ganze Kraft ihrer Kunst in solche Nachschöpfungen gelegt und haben damit rätselhafte Wunderwerke geschaffen.

Andere gingen noch einen Schritt weiter; sie ließen die Farben zu Räumen, zu Gewichten, zu Licht und Schatten, zu Menschen und Tieren werden, aber sie verbanden diese Schilderungen mit den Bedingungen ihres eigenen Blickes, sie machten sich die Täuschungen, denen das menschliche Auge beim Betrachten der Dingwelt unterworfen ist, zum Sujet und verwandelten die Gegenstände ihrer Malerei so ein zweites Mal. Lange Zeit bestand die Faszination, die die Malerei erregte, in solchen Verwandlungen der Farbe, die vergessen ließen, welche natürlichen Substanzen ihr zugrunde lagen. Aber man könnte sagen, dass die gegenständliche Welt, die die Maler auf ihren Leinwänden Wirklichkeit werden ließen, indem sie häufig genug die Wirklichkeit ihrer Modelle noch übertrafen, indem sie sie wirklicher als wirklich werden ließen und dem Betrachter das Gefühl suggerierten, als sähe er die Dinge in ihrer gemalten Form erst eigentlich verdrängte, dass die Malerei ganz unabhängig vom Sujet, ganz unabhängig davon, ob es sich um figurative oder vom Modell befreite Malerei handelt, immer die Verwandlung der Farbe zu ihrer wesenhaften Aufgabe hat.

Längst hat sich im übrigen der Gedanke durchgesetzt, dass es sich streng genommen verbietet, eine „gegenständliche“ von einer „abstrakten“ Kunst zu unterscheiden, weil eine solche Unterscheidung nur die Oberfläche des Phänomens streift. Natur und Menschenwerk haben eine solche Formenfülle hervorgebracht, dass es auch in einer vom Modell befreiten Kunst keine Formen geben kann, die nicht in irgendeiner noch so entfernten Weise mit der gegenständlichen Welt in Verbindung stehen. Gewiss, der rechte Winkel kommt in der Natur nicht vor, aber er gehört zur menschlichen Umgebung, seitdem die erste Hütte errichtet wurde, für die man vier Baumstämme in die Erde rammte. Mit Fenstern und Türen wurden Quadrate und Rechtecke elementare Bestandteile der menschlichen Existenz; als in Ägypten die glatten Pyramiden entwickelt wurden, weil sich auf ihnen in der Wüste der Sand nicht wie auf den Terrassen der Stufenpyramiden ablagern konnte, entstand im Dreieck der Inbegriff monumentaler Architektur. Sonne und Mond pflanzten in den Menschengeist die Vorstellung des perfekten Kreises und der Kugel, lange bevor sich der erste Mathematiker mit diesen Formen beschäftigte. In Gestalt der Wolken standen von Anbeginn sich unablässig verändernde Formen von scheinbarer Massivität bis hin zu schleierhafter Durchlässigkeit vor aller Augen.

So ist denn der Schritt der Maler des XX. Jahrhundert weg von Menschenbild und Landschaftsbeschreibung hin zu den nicht ohne weiteres der vertrauten Umgebung zuzuschreibenden Formationen weniger eine Entfernung von der Gegenständlichkeit, als eine Zuwendung zu ihren Bausteinen hin gewesen. Und auch diese Bausteine verlangen bei ihrer Evokation nach einer Farbverwandlung. Denn die Farbe an sich gibt es eben nicht, und die Farbe aus der Farbtube könnte so etwas in ihrer öligen Pastenhaftigkeit, oder, wenn sie verdünnt ist, Tintenhaftigkeit schon gar nicht sein. Farbiges Licht ist eben zu allererst Licht, farbiges Öl ist zu aller erst Öl, farbig lackiertes Holz ist zu aller erst Harz und Holz, die Farbe tritt zu diesen Substanzen hinzu, sie ist immer und ausschließlich die Eigenschaft einer Substanz und wird durch die Qualität ebendieser Substanz regiert. Nur in der Malerei gewinnt die Farbe Autonomie, sich von ihrer Materialität zu lösen und etwas anderes zu werden, Seide und Perle, Stein und Rauch und schließlich sogar das Unmögliche, das, was es in der Natur nicht gibt und nicht geben kann: die „reine Farbe“ zu suggerieren, den „Stein der Weisen“ in der Malerei.

Farbverwandlung in der Malerei von Hermann Wieliczek: hier wird man zuerst an seine mit Kugelschreiber weniger gemalten, sondern hunderttausendfach getüpfelten und gepünktelten Bilder denken. Sie sind in den Jahren 1968 bis 1972 entstanden, sie sind nicht groß – meist nur 20×20,5 cm, das größte Blatt, die Studie 10, 36×36 cm – und sie sind, bei höchstem Arbeitsaufwand in einer Zeit entstanden, in denen der junge Architekt in seinem Büro vermutlich ganz besonders gefordert war. Kostbarkeiten aus Kugelschreiber – auch dies ein verblüffender Widerspruch, denn der Kugelschreiber gehört zu den verachteten Allerweltswerkzeugen, ein Wegwerfartikel, weit entfernt von den anspruchsvollen und teuren Handwerkszeugen, die die europäische Malerei in den Jahrhunderten ihrer Entwicklung hervorgebracht hat.

Dabei vermag die Farbmasse, die aus dem Plastikröhrchen auf ein Stahlkügelchen fließt, zu faszinieren. Sie ist dickflüssig, glänzend wie Lack und Quecksilber; läuft sie aus, sind ihre Flecken unauflöslich und unentfernbar. Aber der Nachfluss der Farbe stockt gelegentlich, der Kugelschreiber wechselt im Gebrauch fortwährend zwischen allzu großer Flüssigkeit und Spröde; dass er die Handschrift verdirbt, ist nicht die Legende kulturkritischer Reaktionäre. Dass man damit etwas aufzeichnen kann, ist offensichtlich, aber dass man damit ein regelrechtes Gemälde mit einer geschlossenen Farbfläche erzeugen kann, das scheint eher schwierig. Und doch ist es Wieliczek gelungen, mit einem ganzen Strauß von Kugelschreibern in vielen Farben seine „Studien“ zu realisieren, die auf den ersten Blick unerhört dicht gemalten Gouachen gleichen – wobei das Wort „Studie“ in seiner Bescheidenheit bereits das Unzutreffende berührt, denn es handelt sich um bis zur letzten Vollendung getriebene Blätter oder Kartons. Schier unerschöpflich sind die Farbnuancen, die er den Kugelschreibern abringt, die es in vielen Farben geben mag, aber gewiss nicht in den Purpur-, Grau- und Rosa-Tönen seiner „Studien“. Um die Kugelschreiber-Farbpalette für seine Zwecke zu erweitern, hat er Punkt neben Punkt gesetzt – die einzige Möglichkeit, die Kugelschreiberpasten zu mischen. Das gibt den rechteckigen Farbfeldern – das reine Quadrat ist selten, diese vollkommene Form wird gleichsam umspielt, sie ist nur geistig gegenwärtig – eine einzigartige, nie vorher auf graphischen oder malerischen Arbeiten gesehene Struktur – man denkt an fein genarbtes Maroquinleder, an fein gehämmerte Bleche, an eine unerhört dichte Stickerei, an Haifisch-haut, an ein gestörtes, in Punkte zerfallendes, flimmerndes Fernsehbild, an einen nahen Blick in das Sternengewimmel der Milchstraße. Man sieht, an diesen Versuchen, die Farbmaterie der „Studien“ zu erfassen, wie sie zwischen Körperlichkeit und Unkörperlichkeit oszilliert, halb Lichtgebilde, halb hoch komprimierte Ballung. Wieliczek ist es gelungen, eine  neuartige Materie zu erfinden, ihre Herkunft aus dem Kugelschreiber ist vollständig ausgelöscht.

Dieser Reichtum lässt auch vergessen, dass die Anregung zu solchen Rechteck-Kompositionen ihren Ursprung gewiss bei den streng zweidimensionalen Konstruktionen Piet Mondrians hatte, denn die unlösbar ineinander getriebenen Farbpünktchen besitzen eine Tiefe wie schwerer Rauch, die Rechtecke sind nicht Fläche, sondern pulsieren. Ihre Anordnung in kunstvoller Unregelmäßigkeit, verbunden mit ihrem Leuchten, lässt an eine innere Verwandtschaft mit den Aquarellen Paul Klees denken, die bei Wieliczek überrascht, der die Sphäre des Poetisch-Phantastischen eigentlich meidet. Und die Kugelschreiber-Studien tragen nicht nur in ihrer Farbmaterialität, sondern auch in ihrer Komposition ein Element ebendieser Sphäre in sich. Die größeren Blöcke bilden häufig den Rahmen; nach innen werden sie kleiner und umschlingen im innersten Kern ein winziges Feld, so wie die Steinmassen einer Pyramide in ihrem tiefsten Innern die Grabkammer umgeben, die in ihrer Proportion in keinem Verhältnis zu dieser opaken Steinmasse steht. Aber um ihretwillen wurden die hunderttausend Steinblöcke aufeinander gehäuft. So könnte man auch sagen: aus den Kugelschreiber-Studien blickt ein einzelnes rechteckiges Auge den Betrachter an, mit einer geradezu unheimlichen, hypnotischen Kraft.

Einen Schlüssel zu diesen Kompositionen hat Hermann Wieliczek möglicherweise in seiner „Studie 10/2 Metamorphose“ von 1972 liefern wollen. Gegen Ende der fünfziger Jahre hatte er seine Versuche mit der figurativen Malerei im engeren Sinn – Blumenstücke, Straßenszenen – beendet, nun kehrte er im Rahmen seiner Studien noch einmal zu einem Landschaftsbild zurück, allerdings in Form eines Diptychons, das die See- und Bergszenerie mit einer Rechteckkomposition im Sinne der vorangegangenen Kugelschreiber-Studien kombiniert. Dem Landschaftsbild – einem See im verschneiten Hochgebirge mit zwei kanuartigen Booten, die an Nordamerika denken lassen – steht eine Studie zur Seite, oder besser, das eine Bild geht in das andere über.  Die auf mechanische Weise erzeugte Photographie wird durch ihre Umsetzung in Malerei – so wollen wir die Wieliczek-Technik hier der Einfachheit halber nennen – in ihrer Totheit verstärkt; eine Unwirklichkeit aus dem Reich der Schatten liegt unter dem betörend türkisfarbenen Himmel, der die Möglichkeiten dieser Technik zu einem neuen Triumph führt. Aber die abstrakte Tafel mit ihren Rechtecken ist in denselben Farben gehalten: das Schwarz der Berge, das Türkis von Wasser und Himmel, das Krapplack-Rot der Boote, ihr ockerfarbener Rand, das müde Violett der unverschneiten Berghänge – alle diese Farben erscheinen wieder in Rechteck-Gestalt und in dem Landschaftsbild vergleichbaren Massen; die beiden Tafeln sind in ihrer Gegensätzlichkeit sofort als zusammengehörig lesbar. Man kann sich vorstellen, dass die abstrakte Tafel die Landschaft wie durch eine unscharf gestellte Linse betrachtet zeigt, wenn sich die Farben der Gegenstände allein behaupten, ihre Grenzen aber verschwimmen – nur dass die abstrakte Tafel nun den leuchtenden Zauber besitzt, der den Farben jenes Leben zurückgewährt, das ihnen das mechanische Bild genommen hat. Ein einziges Mal hat Wieliczek hier das Geheimnis seiner Sehweise gelüftet – von hier aus kann man sich vorstellen, dass sich die Studien vielfach in eine gegenständliche Welt hinein entfalten könnten, die sie in sich tragen, aber als Konzentrat, als von den Akzidentien geläutert, gleichsam als Blick auf die Welt mit den Augen der Engel – auch Mondrian jedenfalls wäre eine solche Sichtweise nicht fremd gewesen.

II

Zu den frühesten Gebrauchsgegenständen der Menschheit, die mit Muster und Ornament versehen wurden, gehören die Teppiche, wie sie vor allem bei den Nomadenvölkern des Orients entstanden und dort immer noch gewebt und geknüpft werden. Ihre Muster sind vorzügliche Beispiele dafür, wie sich Schmuckformen aus Funktionen entwickelt haben – das Misstrauen gegen das Ornament entstand zu Recht in einer Zeit, in der das Ornament sich weitgehend von der Funktion eines Gegenstandes oder eines Bauwerkes emanzipiert hatte und nicht mehr aus dem Objekt und seinen Gebrauchseigenschaften herauswuchs, sondern nachträglich, ohne diese innere organische Verbindung hinzugefügt, ja aufgeklebt wurde.

Bei den Teppichen der Nomaden ergab sich das Ornament ganz einfach aus der Herstellung am Webstuhl oder dessen Vorformen: die straff gespannten Fäden von Kette und Schuss kreuzten sich in rechtwinkliger Exaktheit, wie sie mit den Händen und einfachem Werkzeug sonst nicht hervorzubringen war; der Teppich wurde so von Anfang an ein technisches Artefakt, das den Naturformen streng als Menschenwerk und Frucht der Vernunft entgegengesetzt war. Ganz früh kommt es zum Zweck der Kennzeichnung der Stoffe zur Verwendung verschiedenartig gefärbter Fäden, zu Karos und Streifen, die sich in immer reicheren Variationen dann entfalten sollten.

Für der Architekten des xx. Jahrhunderts haben die Teppiche Asiens aber eine besondere Bedeutung gewonnen. Das industrielle Bauen mit den neuen Baustoffen Stahl, Beton und Glas wandte sich von den klassischen Prinzipien europäischen Bauens ab, von den Elementen der Mauer, des Bogens, des Gewölbes, die sich aus einem Bauen mit Holz, Stein und Backstein ergeben hatten, und ließ sich von den Bauten Asiens inspirieren, die sich aus dem Zeltbau entwickelt hatten. Das große Zelt, wie es eine Nomadenfamilie, vor allem dann aber auch die wandernden Fürsten Innerasiens beherbergt hatte, bestand ja vor allem aus einem Stangengerüst, in das Teppiche als Wände gehängt wurden. In Fatehpur Sikri, der Residenz Kaiser Akbars des Großen waren nach dieser Auffassung Großbauten geschaffen worden, die aus steinernen Pfeilern bestanden, die man mit riesigen monolithischen Platten anstatt der Teppiche abschloss.

Le Corbusier hat diese Ruinen besichtigt und staunend die Prinzipien seines eigenen Bauens dort wiedergefunden, nur dass ihm statt der Monolithen aus rotem Sandstein nun die viel leichter herzustellenden Betonplatten zur Verfügung standen.

So ist der Nomadenteppich dem geistigen Prozess, der zum industriellen Bauen des XX. Jahrhunderts führte, gleichsam eingeschrieben; er muss als Form-Modell in Hermann Wieliczek, der einen großen Teil seiner Lebenszeit dem Krankenhausbau, also dem funktionellen Großbau gewidmet hat, urverwandt vorgekommen sein. Auf der Höhe des industriellen Bauens, das eine neue Epoche begründete, muss er das Bedürfnis entwickelt haben, in seiner Malerei gleichfalls ganz von vorn anzufangen. Der Begriff „Nomadenteppich“ steht für eine Kunst „vor der Kunst“, eine anonyme, ganz aus der Handwerklichkeit erwachsene Kunst, die von sich selbst noch kein „Kunstbewusstsein“ hat.

Die europäische Kunst hatte sich in den Jahrhunderten nach dem früheren Mittelalter immer weiter individualisiert; immer größer war die Forderung nach einer eigenen Handschrift der Künstler geworden. Doch jetzt hatten sich die Lebensumstände der Menschen, die über Jahrtausende im Kern gleich geblieben waren, grundsätzlich verändert, das war ein Einschnitt in der Geschichte, wie es Jahrtausende zuvor die Zähmung des Feuers gewesen war.

 Die vornehmste Aufgabe der Kunst, so wie viele Künstler des XX. Jahrhunderts sie erkannten, war es, der Technik, die alle Lebensbereiche beherrschte, das ihr innewohnende ästhetische Gesetz abzulauschen, um sie in eine humane Dimension zu erheben, die ihr zunächst verschlossen schien. Um dieses Gesetz zu entdecken galt es, den eigenen Ausdruckswillen zunächst auszuschalten und sich vorgegebenen Regeln zu unterwerfen. Es galt das Experiment: was ergibt sich, wenn der Künstler einem Muster folgt, das der technischen Welt entsprungen ist – den Bauplänen des industriellen Bauens mit den neuen Materialien, den elektronischen Schaltkreisen, den Kurven des EKG, den Zeilen des Fernsehbildes, dem Raster des Millimeterpapiers, dem Strichmuster der Barcodes – graphischen Vorgaben also, die zunächst nicht nur keinen ästhetischen Aspekt haben, sondern in einer grundsätzlich außer-ästhetischen Sphäre angesiedelt sind, so fern vom Schönheitsgedanken wie der Sirius von der Erde. Und es zeigte sich, dass diese Zeugnisse der technischen Zivilisation keimhaft eben doch in der Menschheitsgeschichte verwurzelt waren – in ihrem Anfang nämlich; es war der Geist des Anfangs, der die alte Nomadentextil-Kunst mit den graphischen Notaten unserer Gegenwart verband. Wieliczek wurde nach seinen Kugelschreiber-Bildern in radikaler Abkehr von allem, was man früher Malerei genannt hätte, gleichsam zum Teppichweber – nur in Parenthese sei bemerkt, dass es sich wahrscheinlich lohnen würde, nach dem Vorbild seiner Studien etwa ab 1978 tatsächlich einmal Wandteppiche herstellen zu lassen. Es war, als ob er die Fäden eines Webstuhles spanne, als er mit dem Lineal die sich kreuzenden Linien auf den Hartfaserplatten zog. Eine Matte sollte entstehen, ihre Effekte sollten sich nicht absichtlich, vom Gestaltungswillen des Meisters hervorgerufen, sondern wie von selbst durch die Mischung der teils „überirdisch“ teils „unterirdisch“ verlaufenden Farbfäden ergeben.

Die Arbeit muss in verschiedenen voneinander getrennten Phasen verlaufen sein: zunächst das Ausspannen des „Faden“-Musters aus den sich rechtwinklig kreuzenden Linien. Sodann die Bestimmung der Farbpalette. Wieliczek hat eine Vorliebe für eine harte, auf den ersten Blick bunt wirkende Farbigkeit, die erst bei genauerer Betrachtung ihre feine Abstimmung offenbart. Es scheint, als wolle er bei oberflächlicher Betrachtung die Erwartung einer unsubtilen, „industriellen“ Farbigkeit befriedigen, die den erdhaften Abstufungen der klassischen Tonmalerei abgeschworen hat, der Farbigkeit der neuen Materialien wie Gummi, Plastik und modernen Lacken, die sich nicht mehr mit der Materie verbinden, sondern ihr aufsitzen – Farben, die nicht mehr naturhafte Eigenschaften der Materie sind, sondern ihr willkürlich gegeben werden können. Aber beim genauen Hinsehen erkennt man dann, wie kunstvoll die Farben aufeinander abgestimmt sind, diese etwa fünf Farben, zu denen Schwarz und Weiß hinzutreten. Jede Bildtafel hat ihre eigene Atmosphäre, und obwohl die Quantität in denen jede einzelne Farbe in ihrem Feld auftritt in einem komplizierten Gleichgewicht zu allen anderen Farben steht, wird jede dieser Studien zugleich von einer besonderen Farbstimmung regiert. Es gibt feurige Tafeln, frostig-kühle, dunkel-satte, geheimnisvolle und lichtklare. Es muss für den Maler selbst ein Erlebnis gewesen sein, wie sich aus dem intellektuell nachvollziehbaren Plan in der akribischen Ausführung dann ein stimmungshaftes Ganzes bildete, das kein Plan vorhersehen konnte. Das haben die Studien mit der Architektur gemeinsam, deren Pläne nur der großen eidetischen Begabung in ihrer Realisierung vorhersehbar sind; ein ausgeführter Plan ist stets etwas anderes, als er es auf dem Papier gewesen war.

Zu der Wirkung tritt aber hinzu, dass Wieliczek sein Linienraster nicht gleichmäßig über die Bildfläche spannt, sondern dass er die Linien der Bildmitte zu enger aneinander rücken lässt. Die Farbfelder werden immer enger zusammengestaucht und so entsteht eine Bewegung, oder besser, der Schein einer solchen – die von Illusionskunst und trompe L‘oeil denkbar weit entfernte konstruktive Malerei Hermann Wieliczeks besitzt ein beträchtliches illusionäres Potential. In den eigentlich trotz ihrer Unregelmäßigkeiten statisch konzipierten Kompositionen zieht es sich zusammen und entspannt sich wieder, wirft es sich auf und sinkt wieder ein, entstehen Verdichtungen wie ein Muskelkrampf unter Elektroschock und fließen dann wieder in regelmäßige Lockerungen hinüber. In diesen Studien bereitet sich Räumlichkeit ohne eigentliche Suggestion von Raum vor, die Tafeln scheinen sich zu wölben und zu wellen. Und immer wieder ist es, als steige in ihnen aus dunklen Fundamenten Licht auf: manchmal denkt man an farbige Neonröhren, die das Gitterwerk erhellen und ihm leuchtende Zentren geben.

Ab 1989 werden die Studien, die allmählich immer größer geworden sind und häufig schon die Maße 120×180 cm erreichen, die also in ihrer Höhe immer mehr in eine deutlichere Proportion zum Körper des Malers treten und von diesem körperlichen Gegenüber profitieren, in ihrer Ordnung immer tektonischer; es kommen jetzt Kompositionen vor, die einen regelrechten Sockel besitzen und von dort aus in die Höhe steigen, gleichsam aus einer Unterwasserzone der Sonne entgegenwachsen, oder in ihrem Herzstück eine Quelle des Lichtes tragen. Die Muster werden komplizierter – bleibt man bei der Vorstellung eines auf dem Boden ausgebreiteten Teppichs, würde der Schritt unversehens wie vor sich auftuenden Hindernissen innehalten, so als würde der Boden wie bei einem zugefrorenen See der Mitte zu dünner, als könne der darüber Gehende dort einbrechen. So gelangt Wieliczek in den neunziger Jahren schließlich dazu, die lange nur als schwebende Empfindung vorhandene Räumlichkeit nun ganz ausdrücklich zum Thema zu machen, allerdings auf seine Weise, nämlich nicht perspektivisch, sondern als Lichtphänomen. Er begreift seine Kompositionen nunmehr als gleichsam vorgefundene Objekte, die von von außen auf das Bild fallenden Lichtstrahlen getroffen werden – der Raum des Bildes setzt sich nicht in die Tiefe der Tafel fort, wie bei perspektivischer Malerei, sondern in den Luftraum außerhalb des Bildes, aus dem Blöcke farbigen Lichtes auf das Bild fallen – sie stammen aus der Sphäre, in der der vor dem Bild stehende Betrachter atmet. Diese Lichtblöcke verändern das Bild, das ein im Dunkel schlafendes Konstrukt ist, leblos und dumpf, und nun durch den Lichtbruch zum Leben erwacht und die eigentliche Natur seiner Farben offenbart. Es ist jetzt immer öfter, als hingen die Bilder in einem dämmrigen Zimmer und es falle durch die Schlitze der geschlossenen Fensterläden das heiße Sonnenlicht von draußen auf sie; das gibt den Bildern eine hochsommerliche, südliche Stimmung. Dies Sonnenlicht mischt sich ein und greift auch in die vorgegebenen strengen Raster ein, indem es sein eigenes Muster dagegensetzt. In wachsendem Maße lässt Wieliczek im Rahmen seines Lichtzaubers zwei einander entgegengesetzte Bildkonzepte aufeinanderprallen – man meint, die Lichtinterventionen von dem dunkleren Grund regelrecht ablösen und sie sich davon unabhängig vorstellen zu können.

Das Licht war es dann auch, das eine neue durchaus überraschende Phase im Malerleben Hermann Wieliczeks eröffnete. Bis dahin hatte er sich in einigen Sätzen des belgischen Konstruktiven Jo Delahaut von 1951 wiedergefunden:

„Ich meide das Unvorhergesehene, ich fliehe die Ungewissheiten des Zufalls, die Unbeständigkeit des Pinsels, die Laune des Augenblicks, die unbeabsichtigte Erregung seines Striches. Diese Erregtheit kann nur das Ergebnis einer genauen Berechnung sein. Die Logik zieht mich an. Improvisation erschreckt mich. Mir scheint, dass eine kluge Retusche den ersten Vorwurf übertreffen sollte. Ich betrachte die Unbefangenheit als eine gefährliche Gabe, kurz als einen Fehler, von dem man sich schnellstens befreien sollte.“

Wieliczek hatte in dieser programmatischen Äußerung des Älteren die eigene Abneigung gegenüber einer weit verbreiteten „Bauch“-Malerei bestätigt gefunden. Aber es geschähe nicht das erste Mal in der Geschichte der Kunst, dass ein lebenslanges eisernes Exerzitium schließlich zu Leistungen befähigt, die sich von einer Kunst der „Unbefangenheit“ und der Improvisation nicht unterscheidet – man denke vor allem an die Musik, an das harte kontrollierte Training der Pianisten, das gewisse Meister der Präzision in ihrem Alter instandsetzt, einen Ländler von Schubert oder Mozart in unschuldsvoller Frische zu spielen, als sei er ihnen soeben erst eingefallen. Etwa um die Jahrtausendwende ist es, als solle das Lineal, das bei Wieliczek bisher die Tätigkeit des Architekten mit der Malerei verband, nicht geradezu vergessen werden, aber als Erzeuger einer ästhetischen Atmosphäre in den Hintergrund treten. Die Verwendung von Farbstiften mit weichen Minen nehmen den nun entstehenden Studien den Charakter des Gedruckten, sie lassen die Erkennbarkeit der Handschrift zu, sie spielen mit dem Wechsel des festen Drucks auf den Stift, der satte Farbpasten hervorbringt und dem sanften Stricheln, das Farbschleier möglich macht. Jetzt lässt er ein leichtes Verschwimmen der Kontur zu; senkrechte Pfähle, deren Licht- und Schattentöne ihnen zuweilen perspektivische Körperlichkeit verleihen, sind in die rechtwinkligen Farbfelder hineingepflanzt und schaffen mit den GitterLicht-Phänomenen zusammen einen irrealen und widersprüchlichen Raum. Und schließlich wird sogar die Herrschaft des rechten Winkels zugunsten wellenförmiger Körper gebrochen, bis dann, in jüngster Zeit, ab 2011 etwa, sogar regelrecht „gemalt“ wird – man könnte versucht sein, in dreister Weise Wieliczek zitierend, „aus dem Bauch heraus“, wenn diese neuen mit dem breiten Pinsel und mit freier Hand entworfenen Kompositionen nicht auf dem sicheren Fundament der vorangegangenen exakten Kompositionen ruhten. Eine solche Entwicklung zeigt, wie gut es sein kann, alt zu werden, wenn es schließlich durch fortwährende Arbeit – dennoch spielerisch – gelingt, die Gegensätze zusammenzuführen, sie ineinander aufgehen zu lassen und damit den Weg für weiteres Fortschreiten zu bereiten.

Dr. phil. habil. Klaus-Jürgen Grün

Dr. phil. habil. Klaus-Jürgen Grün,
Hochschuldozent am Institut für Philosophie der
Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.;
Lehre und Forschung in der Naturphilosophie, der Philosophie
des Mittelalters, der Aufklärung und des deutschen Idealismus – umfangreiche Publikationen;
Gründer des PhilKoll (Philosophisches Kolleg für Führungskräfte).

Übernatürliche Diesseitigkeit

 I

Was wir von unserer Welt erkennen, erkennen wir im Rahmen von Ordnungsgefügen. Ungeordnete Eindrücke würden wir nicht ohne weiteres als Erkenntnisse bezeichnen. Die Komplexität der Welt ist demnach die Komplexität von Ordnungsgefügen. Dieses nennen wir die Wirklichkeit. Unter den ordnenden Formen, denen der Stoff der Erkenntnis unterworfen ist, stehen Raum und Zeit dominierend hervor. Sie sind die wichtigsten Strukturkennzeichen von Ordnungsgefügen, und sie sind immer abhängig vom subjektiven Bestandteil der Erkenntnis. Erstmals hat Immanuel Kant im späten achtzehnten Jahrhundert nachgewiesen, dass Raum und Zeit an die Fähigkeiten gebunden sind, Gegenstände durch die Sinne wahrzunehmen.

Sie gehören daher zur Sinnlichkeit.

Aber diese Sinnlichkeit ist nicht allein passiv empfangend, sondern sie komponiert aus eigener Kraft zu jeder Empfindung Raum und Zeit hinzu. So werden die Sinneseindrücke zugleich mit ihrem Auftreten ordnenden Strukturen unterworfen. Es entsteht der Eindruck der Zeitlichkeit unserer Empfindungen durch das Nacheinander ihrer Momente; den Eindruck der Räumlichkeit verdanken wir ihrem Nebeneinander. Was aber Raum und Zeit außerdem sind, als dass sie einzelne Eindrücke von der Welt für uns zusammenfügen, das wissen wir nicht.

Der Wissenschaft bereitete es immer schon Schwierigkeiten, dieses Nichtwissen gegenüber Raum und Zeit anzuerkennen. Frühere Formen der Naturwissenschaft – vor allem Newtons Mechanik– arbeiten mit der Vorstellung von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit. Diese Vorstellung eines von den Erscheinungen losgelösten Raumes und einer von ihnen ebenso losgelösten Zeit stammt aus der Gewohnheit, dass nahezu alle wahrgenommenen Gegenstände für uns im dreidimensionalen Raum und in der eindimensionalen Zeit erscheinen. Gewohnheit, vielleicht aber auch andere Feinde der Erkenntnis, haben diese ordnenden Formen zu einem starren Gerüst der Welt verhärten lassen. Dieser Gewohnheit kommt auch entgegen, dass die Anschauungsformen Raum und Zeit in der mathematischen Geometrie losgelöst von den raum-zeitlich geordneten Gegenständen untersucht werden können. Schließlich steigern sich jene Anschauungsformen ins Absolute: die von ihren Inhalten abgelösten Formen beginnen ein Eigenleben zu führen. Menschlicher Verstand verfällt der Meinung, es existierten Raum und Zeit auch dann noch, wenn alle Gegenstände aus der Welt herausgenommen würden. Auf diese Weise haben sich die von Ordnungsgefügen abstrahierten Formen Raum und Zeit durch Verstandestätigkeit zu konkreten Existenzen verdringlicht. Sie gebärden sich als Erkenntnisse über die wirkliche Beschaffenheit der Welt, obgleich wir niemals wirklich wissen können, was Raum und Zeit an sich sind, wenn wir sie nicht an den Gegenständen der Welt wahrnehmen. Dies erklärt, warum es für die Naturwissenschaft ein weiter Weg war, bis der Physiker Albert Einstein vor hundert Jahren ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rief, dass auch Raum und Zeit verschwänden, wenn wir alle Gegenstände aus der Welt herausnehmen würden.

 II

Die Erkenntnis der Bedingtheit von Raum und Zeit erlaubt es, der von Physik erfassten Natur ihren Anspruch auf ausschließliche Wirklichkeit abzusprechen und andere Wirklichkeiten hervorzubringen. Das Ordnungsgefüge aus geometrisch-zeitlichen Komplexen, das wir mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden, lässt noch Freiräume für die Suche nach Wahrheit. Was uns die Wissenschaft über die Natur, über die Welt und über den Menschen verrät, verrät sie innerhalb von Strukturen, die nicht zuletzt aus der Wissenschaft selbst stammen. Andere Ordnungsgefüge sind möglich, sie werden durch kreative Tätigkeiten hervorgerufen. Dadurch entstehen neue Projektionen der Welt, die ihrerseits weitere Wege zu einer Wahrheit eröffnen. Auch diese spiegeln Erkenntnisse wider, die innerhalb von Ordnungsgefügen gewonnen werden, aber sie bleiben Erkenntnisse, in denen über das Mechanische hinaus eine schmuckhafte Ordnung – der Kosmos – sichtbar werden kann.

Schmuckhafte Ordnungsgefüge finden sich in Gebilden aus Tönen oder Farben. Ein Musikstück können wir als ein Klanggefüge betrachten, ein Bild als ein Farbgefüge. Sie stellen Zusammenhänge von Sinneseindrücken zwar nicht mit wissenschaftlicher, wohl aber mit spielerischer Strenge her. Ordnungsgefüge aus Tönen und Farben haben gegenüber den naturwissenschaftlichen Ordnungsgefügen den Vorzug, dass sie keinen Anspruch auf Absolutheit erheben. Sie bleiben offen für Einwände. Eine Komposition aus Farben stellt etwas anderes dar als die Gegenstände und Objekte, die sie abbildet. Das Klangbild eines Musikstücks gleichermaßen wie die Komposition aus Farben geben Eindruck und Stimmung von Erlebtem wieder, aber in verwandelter Gestalt. Während die Modelle aus Physik und anderen Naturwissenschaften den Grund ihres Daseins in der objektiv gegebenen Natur aufsuchen, haben die Klang- und Farbbilder den Grund ihres Daseins wesentlich in sich selbst. Gleichwohl bleiben sie keine leeren Spiegelungen, sondern sie reflektieren einen erlebten Eindruck. Anders als ein wissenschaftliches Ordnungsgefüge offenbaren die Klang und Farbbilder ihre objektive ebenso wie ihre subjektive Seite. Sie wollen meist absichtlich subjektiv nicht dasselbe sein, was sie auch objektiv sein könnten – also ohne bildende Tätigkeit des Menschen. Dem Tonsatz, der eine exakte Wiederholung der Melodien zweier Nachtigallen wäre, dem Gesang der allein Lockruf bleiben wollte, dem Paukenschlag, der nur den grollenden Donner nachahmte, all diesen tönenden Wirklichkeiten fehlte ein Moment der Menschlichkeit. Gelänge es ihnen, objektiv zu bleiben, dann reproduzierten sie die Natürlichkeit der Natur, in der das Bild des Humanen noch keine Gestalt angenommen hat.

 III

Was in vielen Menschen Begeisterung für Musik weckt, ist das übernatürliche Moment, das in ihr mitklingt, und wodurch sie leicht über den rohen Naturzusammenhängen schwebt. Aber was über den Naturzusammenhängen angesiedelt ist, gehört keineswegs schon dem Jenseits an. Die Wirklichkeiten, von denen jene Spielwerke aus Klängen, Tönen und Rhythmus künden, sind von übernatürlicher Diesseitigkeit. Sie sind in einer Zwischenwelt zu Hause, der sich kein eindeutiger Punkt in Raum und Zeit zuordnen lässt, sie gehören dennoch der uns umgebenden diesseitigen Welt an.

Solche Spielwerke können auch aus Farben entstehen. Wie der Tonsetzer komponiert der Farbsetzer aus seinen Elementen eine Wirklichkeit, deren Basis zunächst natürliche Stimmung und Erlebnis ist. Doch bleibt es nicht bei jener Realität der rohen Natur, in der festgelegte Ordnung und Gesetzmäßigkeit herrschen. Formen und Farben teilt der Farbsetzer eine neue Wirklichkeit zu, die sich von jenem ersten Naturzusammenhang abhebt. Diese Spielwerke der Farbigkeit und Figur gehören wie die Musik jener Zwischenwelt an, in der Übernatürliches, aber nicht Jenseitiges wohnt.

Farbenspiele, die auf das Auge einwirken, haften gegenüber Klängen stärker am ersten sinnlichen Eindruck. Während Musik das Ohr leichtfüßig über die bloße Nachahmung der Naturstimmen hinweghebt, verführt ein Bild das Auge immer wieder zum Vergleich mit Gesehenem. Wo dieser Vergleich sich nur schwer oder gar nicht einstellen kann, wird dem Auge zugemutet, dass es sich freimache von der Macht gewohnter Bilder. Es tritt ein in eine ungewohnte Wirklichkeit, die es sich zuvor entlang des Bildes hat nach-komponieren müssen. Nicht immer wird diese Zumutung, die das Auge zur Toleranz gegenüber Fremden gewöhnt, auch als Befreiung empfunden. Aber wenn die Farbstimmungen eines ansprechenden Werkes uns bei der Betrachtung in ihre eigenen Räume hineinziehen, dann lösen sie uns zumindest für Momente aus den durch Gewöhnung natürlich gewordenen Lebensräumen heraus. Das Natürliche wird uns unnatürlich und das Unnatürliche zu unserer zweiten Natur. Darin liegt eine humanisierende Wirkung von Farbkompositionen: in der Gewöhnung an die Toleranz gegenüber dem Fremden. Sie ist einer der Gründe dafür, dass Bildwerke Wirkung zuerst auf unsere Sinne und anschließend auf unser Denken auszuüben vermögen.

Spielwerke aus Tönen und Farben unterhalten einen Stoffwechsel zwischen empirischer Realität und ihrer eigenen Autonomie. Sie geben der rohen Natur etwas, was diese aus sich heraus nicht freigeben wollte. Daher hinterlässt auch die Natur, eben jene empirische Realität, die uns als Außenwelt objektiv gegenüber steht, im Spielwerk ihre Spuren. Nicht selten tritt Natur erst hervor, wenn sie sich über sich hinaus entwickelt hat – auf einer zweiten Stufe, als eine zweite Natur. Kunst ist künstlich, aber auch die Moral ist etwas Unnatürliches.

IV

Wenn Bildwerke sich in eine kritische Distanz zur Welt begeben, machen sie den Blick frei für neue Möglichkeiten, die in der gewöhnten Wirklichkeit verborgen liegen. Sie werden Träger von Utopie; denn sie sprengen die Geschlossenheit der gegebenen Fakten auf und setzen den Prozess weiterer Entwicklung in Gang. Diese Bildwerke geben dem Menschen einen Teil seiner Menschlichkeit. Sie erinnern ihn daran, dass nicht alle Dinge ihre Wirklichkeitsstärke allein aus den Gesetzen des Fressens und Gefressenwerdens beziehen. Sie haben die Natur über den Zustand ihrer Rohheit hinausgehoben und uns gezeigt, dass zuletzt nur wir es sind, die auch der Natur ihre Rohheit andichten, solange wir noch ganz in ihren Kräften gefangen sind. Hier ist ein weiterer Grund, sich der Wirkung eines Bildwerkes auszusetzen. Denn wo ein Bild Anstöße zu solchen Eindrücken gibt, da wird es zum notwendigen Bestandteil von Humanität, da wird es selbständig und autonom. Der Mensch bedarf des Bildes, um sich über die rohe Natur ins Humane zu erheben, aber das Bild bedarf nicht des Menschen, und auch die Interpretation kann ausbleiben.

Dr. Ulrike Kienzle

Dr. Ulrike Kienzle,
wissenschaftliche Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut der
Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.;
Forschungsarbeiten im Bereich Musiktheater und Musikaesthetik;
weitere Schwerpunkte bilden interdisziplinäre Fragestellungen sowie
Untersuchungen musikalischer Phänomene im Kontext von Literatur,
Philosophie, Theater- und Kunstgeschichte.

Die Suche nach der „höheren Formel“.

Verborgene Analogien zwischen Musik und Bild

 

Über die Beziehungen – Trennendes und Gemeinsames – zwischen bildhafter und tonaler Gestaltung ist viel nachgedacht und geschrieben worden; folgerichtig gibt es unterschiedlichste Ansätze, Verwandtschaft zwischen immaterieller, zeitstrukturierter Tonschöpfung und raumgreifend gebildeter Farbkomposition zu stiften und zu begründen.

Dabei lassen bis heute die meisten Umarmungsversuche – überwiegend von Seiten der „Bildner“ ausgehend – in ihren Verbalisierungen den schwankenden Boden spüren, von dem sie geführt werden, insbesondere dann, wenn die Annäherung mit unverhohlener Deutlichkeit vorgetragen wird: Haben doch letztendlich die gemalten „Fugen“, „Suiten“, „Symphonien“, „Musiken“, ob von Čiurlionis, Kandinsky, Marc, Hölzel, Kupka, Matisse, Klee, Fleischmann, Strübin, Weder und vielen anderen mit „Musik“ im eigentlichen Sinn genauso wenig zu tun, wie die vielfältig malerisch dargestellten Violinen, Gitarren, Klaviere, Violinenschlüssel, Notenblätter von Braque, Picasso, Gris, Albers und anderen.

Analogien zwischen Bild und Musik müssen jenseits vordergründiger Metaphorik gefunden werden – nachhaltige Hilfe bei der Suche kann die beiden Gestaltungswegen zugehörige Immanenz von Raum und Zeit bieten: In der Musik entsteht auch Raumerlebnis, hervorgerufen durch die unterschiedliche Schwingungszahl – hoch/tief – und die damit entstehende auf- und absteigende Bewegung der Töne, – hervorgerufen durch verschiedene Schallintensitat und differenzierte Klangfarben, die zu Wahrnehmungen von Nähe und Ferne führen;

das Bild evoziert neben seiner Raumwirkung auch Empfindung von Zeitabläufen, die Rezeption vollzieht sich, nicht anders als bei Musik, in der Zeit – sie verläuft prozesshaft, gesteuert durch die Blickführung über differenzierte farbige und grafische Strukturen der Bildfläche, je nach deren Setzung beschleunigt oder verlangsamt.

Solche jenseits plakativer Motivassoziationen wirkende Analogien können in der Begegnung mit Wieliczeks als „Farbsetzungen“ bezeichneten Studien bei hierfür empfänglichen Betrachtern Erinnerungen an komponierte Tonstücke wecken, obwohl keinerlei Absichten oder Hinweise vermittelt werden, die solche Beziehungen nahelegen – es werden keine Tänze, Transkriptionen oder Visualisierungen bekannter Tonschöpfungen angeboten, die Farbanwendung erfolgt nicht als Ableitung aus „Farbhören“ oder sonstiger synaesthetischer Reaktionen – diese Bildstudien verstehen sich nicht als Mimesis von Bekanntem, sondern als Chiffre einer hinter den sichtbaren Phänomenen wirkenden Ordnungswelt:

Wie der Tonsetzer Tonfolgen „komponiert“, d.h. Zusammenfügt, sie zur Harmonie bringt, ihnen eine melodische Gestalt und eine rhythmische Ordnung gibt, die nichts bedeuten will als diese Ordnung selbst, so gestaltet auch Hermann Wieliczek seine Farbstücke; ihr Gefüge entsteht aus einer Abfolge von Farbmengen als Einzelelemente in Rechteckform, die in ihrer monadischen Abgeschlossenheit ähnlich eigenständig wirken wie der einzelne Ton in der Musik;

so kann der Farbeinsatz auch als „Orchestrierung“ verstanden werden – in der ihr jeweils zugewiesenen Einzelmenge dient die Farbe der Markierung und Verdeutlichung der dem Farbeinsatz zugrundeliegenden Organisationsstruktur – einer algorithmisch-systematischen Zusammengesetztheit der Bildfläche nach einem übergeordneten Metrum. Die Anordnung der Farbmengen mit ihren sich verändernden Größen – sie werden in Richtung zu Verdichtungszentren mit abnehmendem Volumen und kürzeren Abständen aufeinanderfolgend gleichsam „schneller“, in wegführendem Verlauf dementsprechend langsamer – versetzt die Bildfläche in eine streng geordnete, schwingende Bewegung, deren zwingende Beharrlichkeit einen unlösbar eingeflochtenen Rhythmus erspüren lässt.

Der Begriff „Rhythmus“ bezeichnet eigentlich als Terminus technicus der Musiktheorie die metrische Gliederung melodischer und harmonischer Strukturen – der Takt gibt die allgemeine Zeitordnung vor, der Rhythmus verlebendigt das starre Schema. Ursprünglich meint Rhythmus – in der griechischen Antike – eine geordnete Bewegung überhaupt, wie sie beispielsweise im Umlauf der Himmelskörper, in der Wiederkehr der Jahreszeiten oder einer choreografischen Tanzbewegung zum Ausdruck kommt.

 

Der Makrokosmos des Universums, der Mikrokosmos des Unsichtbaren existieren in rhytmischer Bewegung – der Mensch lebt zwischen den Kosmoi und ist deren Rhythmen ausgeliefert; Musik ist nicht das einzige, aber ein besonderes evidentes und wirksames Medium, durch welches der Mensch mit der Rhythmik, die sein Leben durchzieht und antreibt, interaktiv spielend und spielerisch in Beziehung gelangt.

In seiner „Philosophie der Kunst“ hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling die schöne Formulierung „Der Rhythmus ist die Musik in der Musik“ gefunden – natürlich hat der Philosoph diesem Satz andere Interpretationen folgen lassen – aber… Rhythmus könnte auch „die Musik“ in einem Farbgefüge, oder, anders gesagt, das Merkmal eines Farbstückes sein, welches am leichtesten eine Gedankenbrücke zur Musik schafft.

In dieses Gedankenspiel passt die berühmte Definition, die der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz von der Musik gegeben hat – sie lautet: „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi“, zu deutsch: „Musik ist eine verborgene arithmetische Übung des unbewusst zählenden Geistes“; diese objektivistische Deutung weist der Musik eine Position im Verhältnis zur Naturwissenschaft und Kosmologie zu, die auch Ausgangs- und Endpunkt bildhafter Gestaltung sein kann, da der Mensch zwar die Ordnung der Dinge, ihre harmonische Struktur in ihrer Zahlhaftigkeit nicht unmittelbar wahrnimmt, aber doch über einen inneren Sinn verfügt, der solche Ordnung unbewusst erkennt und dabei Freude über Vollkommenheit und Schönheit dieser Harmonie empfinden lässt.

 

Leibniz konnte das Entstehen einer bildnerischen Abstraktion als eigenständige Gestaltungsform und ihre verzweigte Entwicklung, sei es Kubismus, Stijl oder Konkretismus, nicht voraussehen, sie ist in seine Überlegungen nicht einbezogen – warum soll aber eine Übertragung seiner Gedanken auf Bildwerke, wie sie sich hier darstellen, nicht versucht werden?

Berührt durch die Rhythmik und das Métrion vertieft sich der Geist schauend in den Mikrokosmos des Farbgefüges, weil er in der von ihm intuitiv empfundenen, vom Farbsetzer bewusst konstruierten Ordnung die „Harmonia mundi“ ahnt, den schönen Zusammenhang des verschiedenen, wie er in den Phänomenen des Kosmos oder einer geglückten mathematisch-physikalischen Formel zu finden ist.

Der aufmerksame Betrachter entdeckt in den „Farbsetzungen“ noch andere Charakteristika, denen Entsprechungen in musikalischen Kompositionen zugeordnet werden können, zum Beispiel die „polyphone“ Anordnung der Farben: Jede der im Farbsatz verwendeten Farben – die Anzahl ist von Fall zu Fall verschieden; es können vier, sechs oder auch vierzehn unterschiedliche Farben sein – markiert in eigenständiger Abfolge Positionen nur in der ihr zugewiesenen: Ebene (Studien 32/1-32/2). Farbrmarkierungen verschiedener Ebenen fügen sich zu Motiven zusammen, die ihrerseits mit jeweils kleinen oder größeren Veränderungen „Sequenzen“ bilden. Dabei entstehen themenähnliche Gebilde, die wiederum miteinander verknüpft sind. Farblich miteinander verwobene Bildabschnitte verlaufen von unten nach oben oder umgekehrt, immer in nur einer Richtung, in anderen Studien auch gleichzeitig von unten und oben zur Mitte hin gerichtet (Studien 23/1-2-3-4). In ihnen wird die Darstellung der in Form und Ablauf gleichbleibenden Motiv- und Themengruppen von jeweils veränderter Farborchestrierung übernommen und mit neuem Ausdruck erfüllt. Durch rotationssymmetrische Setzung der Farben entsteht der Eindruck einer kreisenden, zum Ausgangspunkt zurückkehrenden Bewegung (Studien 37/9-10). Dadurch sind Motive und thematische Abfolgen in verschiedenen Positionen, auch in „Umkehrung“ oder „Krebsgestalt“ zu finden – dies erinnert an kontrapunktische Techniken der alten polyphonen Musik wie in der Zwölftontechnik des 20. Jahrhunderts.

In den verschiedenen Regionen des „Farbstückes“ kommt es zur Wiederbegegnung und Wiedererkennung bereits gesehener und vertrauter Phänomene. Eingeschobene Zonen mit verhältnisgleicher Aufhellung oder Abschattung aller Farbebenen, die diese Zonen durchlaufen, gleichen musikalischen „Modulationen“ von einer Tonart in die andere und zurück zum Grundton (Studie 30/1). Daruber hinaus gibt es Ebenen, die durch besondere Farbgebung in den Vordergrund gerückt werden und einen eigenstandigen, nicht der Rhythmusmarkierung dienenden Verlauf zeigen. Sie sind als balkenförmige Chiffren gestaltet und folgen einer „melodischen“ Linie. Alle diese Komponenten sind in Begrenzung und Position immer stringent und akribisch in die rhythmische Organisationsstruktur des „Farbstückes“ integriert – hierdurch entstehen Spannung und Dynamik, deren Wirkung sich auf den Betrachter überträgt. Wenn man will, lassen sich die in den Farbgefügen sichtbar werdenden Strukturen mit Formen der musikalischen Konstruktion vergleichen: spielerisch über die Bildfläche verteiite Patterns deuten Etüden an Studien 18/1-2-4-5); Anordnung und Formveränderungen von Motivfolgen lassen an Exposition, Durchführung und Reprise eines Themas in der Sonatensatzform denken (Studie 36/1), während sich bei manchen Farbsätzen ein für Chaconne und Passacaglia typisches Ostinato In Erinnerung bringt (Studie 25/2-3).

 

Selbstverständlich sind solche Bildwirkungen nicht zwingend, sie müssen sich nicht bei jedem Betrachter einstellen – grundsätzlich ist aber die menschliche Wahrnehmung immer bestrebt, hinter sinnlichen Phänomenen eine Ordnung zu finden, so hat es die Gestaltpsychologie nachgewiesen; die Suche und Entdeckung von Ordnung, Harmonie und Struktur ist eine anthropologische Konstante, die Musik und Bildkonstruktion in den Akten der Erfindung und der Rezeption gemeinsam haben.

Wer durch solche Überlegungen angeregt, sich auf weitere Gedankenspiele über die Verwandtschaft von Farbsetzung und Tonsatz, auch über Analogien bei der Erfindung bildhafter und tonaler Artefakte einlassen möchte, sollte sich Johann Wolfgang Goethes Reflexionen über Gemeinsames und Verschiedenes von Farbe und Ton vor Augen führen; im Paragraph 748 seiner „Farbenlehre“ heißt es unter der Überschrift „Verhältnis zur Tonlehre“:

 

„Vergleichen lassen sich Farbe und Ton untereinander auf keine Weise, aber beide lassen sich auf eine höhere Formel beziehen, aus einer höheren Formel beide, jedoch jedes für sich, ableiten. Wie zwei Flüsse, die auf einem Berge entspringen, aber unter ganz verschiedenen Bedingungen in zwei ganz entgegengesetzte Weltgegenden laufen, so dass auf dem beiderseitigen ganzen Wege keine einzelne Stelle der andern verglichen werden kann, so sind auch Farbe und Ton. Beide sind allgemeine elementare Wirkungen, nach dem allgemeinen Gesetz des Trennens und Zusammenstrebens, des  Auf- und Abschwankens, des Hin- und Widerwägens wirkend, doch nach ganz verschiedenen Seiten, auf verschiedene Weise, auf verschiedene Zwischenelemente, für verschiedene Sinne.“

 

Was Goethe hier am Beispiel von Ton und Farbe ausführt, beleuchtet noch einen weiteren Aspekt der Analogie zwischen beiden Kunstformen: das Trennen und Zusammenstreben, das Auf- und Abschwanken, das Hin- und Widerwägen sind rhythmisch-energetische Prozesse, die Spannung erzeugen und Spannungen lösen. Sie können sich in der gegenstandslosen Kunst als Arabeske, Linie oder Konglomerat von Patterns ausdrücken, in der Musik jedoch als Wechsel von Konsonanz und Dissonanz, als Geflecht von polyphon gesetzten Melodien, die sich überlagern oder aufeinander zustreben. Die Wirkungen sind in ihrer äußeren Gestalt verschieden, in ihrem zugrunde liegenden Gesetz, das Goethe „Urphänomen“ nennt, aber elementar und gleich. Deshab ist auch die psychische Tätigkeit, die durch solche Phänomene im Menschen geweckt wird, analog.

Goethe hat sich intensiv mit den Analogien zwischen visueller und akustischer Welt und zwischen den daraus entspringenden Künsten befasst; nicht von ungefähr wollte er der Farbenlehre noch eine Tonlehre folgen lassen, die nach dem gleichen Prinzip aufgebaut und mit derselben Methodik dargestellt werden sollte. An einer anderen Stelle hat Goethe, ein Diktum des Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling abwandelnd, die Architektur als „verstummte Musik“ bezeichnet; bei Schelling war von „erstarrter Musik“ die Rede. Architektur die durch abstrakte Formen die Schwerkraft der Materie bannt, und die gegenstandslose Malerei unserer Zeit sind ebenfalls vergleichbar.

Die Besteigung des Berges, von dem Goethe spricht, führt zum gemeinsamen Quell der künstlerischen Inspiration, die immer gleich ist, auch wenn der Strom des kreativen Schaffensprozesses nach verschiedenen Seiten verläuft. Leider ist Goethes Tonlehre Fragment geblieben. In ihr hätte er wohl jene „höhere Formel“ gefunden, welche die Gemeinsamkeit von Musik und Bildender Kunst ausmacht. Daher müssen wir uns gleichsam an die Stelle Goethes setzen und im Anschauen der Bilder diese „höhere Formel“ aufspüren, welche „Farbsetzungen“ und „Tonsetzungen“ gemeinsam ist.