Martin Mosebach, geboren in Frankfurt/M.,
lebt dort nach Studium der Rechte seit 1980 als Schriftsteller;
er ist Mitglied
der Deutschen Akademie in Sprache und Dichtung,
der Bayerischen Akademie der schönen Künste,
der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg,
seit 2007 ist er Träger des Büchner-Preises.
Betrachtungen zum malerischen Werk von Hermann Wieliczek
I
Verwandlung der Farbe, das ist von Anbeginn das große Arkanum der Malerei. Die Farbe in ihrem Rohzustand – ob, wie früher üblich, selbst gerieben und angerührt, ob, wie heute, im Geschäft in der Tube als Industrieprodukt erworben – sie ist dazu berufen, etwas anderes zu werden, wenn sie mit dem Pinsel auf die Leinwand, die Mauer, den Karton aufgetragen wird. Und dabei sind die Farben der Maler ja eben nicht reine, von der Materialität ihrer Herkunft unabhängige Substanzen, sondern sie tragen die Eigenschaften der Stoffe, aus denen sie gemacht sind, mit sich: die organischen wie das Ochsenblut und das Eigelb, die verschiedenen Erden von Siena über Ocker bis zum Umbra, deren Namen schon auf die Landstriche zeigen, wo sie einst gewonnen wurden, bis zu den Mineralien und Metallen, von Lapislazuli und Kupfervitriol, und die industriell gefertigten modernen Acryl-Farben bewahren diese Erinnerungen an den Schwefel und den Ruß, an Blei und an die Pflanzen, denen die Maler der Vergangenheit ihre Farben abgewonnen haben.
Man könnte jedes Bild, gleich welcher Kunstepoche es entstammt, mit dem unverwandten Blick, der sich von dessen figurativen Elementen nicht ablenken lässt, ebenso gut als eine Intarsie begreifen, in der organische und anorganische Substanzen in einem alchemistischen Prozess zu einer neuartigen unlösbaren Verbindung gelangt sind:
Der Begriff der Alchymie fällt hier nicht zufällig.
Malerei ist den Zielsetzungen der Alchymie urverwandt und vielleicht sogar die Form, in der die in der Geschichte gescheiterte eigentliche Alchymie weiterlebt und zu jenen Erfolgen gelangt, die der historischen Alchymie versagt blieben. Auch bei ihr ging es um Verwandlung der Materien, um Veredelung des Wertlosen zum unendlich Kostbaren, zum Gold-machen aus Dreck, schließlich zur Erschaffung von Leben aus dem Toten.
Die Verwandlungen der Farben auf figurativen Bildern ist zunächst ganz offensichtlich – in der Fortentwicklung der Ölmalerei vor allem wurde den Farben zur Aufgabe gemacht, den Charakter jeder erdenklichen Substanz anzunehmen, von den unbelebten, den Stoffen, Holz, Eisen, Pelzen, Glas und Perlen, bis hin zur hohen Schule der Malerei, der Nachschöpfung der menschlichen Haut, der Augen, der speichelbetauten Lippen, des glänzenden Haares. Manche Maler haben die ganze Kraft ihrer Kunst in solche Nachschöpfungen gelegt und haben damit rätselhafte Wunderwerke geschaffen.
Andere gingen noch einen Schritt weiter; sie ließen die Farben zu Räumen, zu Gewichten, zu Licht und Schatten, zu Menschen und Tieren werden, aber sie verbanden diese Schilderungen mit den Bedingungen ihres eigenen Blickes, sie machten sich die Täuschungen, denen das menschliche Auge beim Betrachten der Dingwelt unterworfen ist, zum Sujet und verwandelten die Gegenstände ihrer Malerei so ein zweites Mal. Lange Zeit bestand die Faszination, die die Malerei erregte, in solchen Verwandlungen der Farbe, die vergessen ließen, welche natürlichen Substanzen ihr zugrunde lagen. Aber man könnte sagen, dass die gegenständliche Welt, die die Maler auf ihren Leinwänden Wirklichkeit werden ließen, indem sie häufig genug die Wirklichkeit ihrer Modelle noch übertrafen, indem sie sie wirklicher als wirklich werden ließen und dem Betrachter das Gefühl suggerierten, als sähe er die Dinge in ihrer gemalten Form erst eigentlich verdrängte, dass die Malerei ganz unabhängig vom Sujet, ganz unabhängig davon, ob es sich um figurative oder vom Modell befreite Malerei handelt, immer die Verwandlung der Farbe zu ihrer wesenhaften Aufgabe hat.
Längst hat sich im übrigen der Gedanke durchgesetzt, dass es sich streng genommen verbietet, eine „gegenständliche“ von einer „abstrakten“ Kunst zu unterscheiden, weil eine solche Unterscheidung nur die Oberfläche des Phänomens streift. Natur und Menschenwerk haben eine solche Formenfülle hervorgebracht, dass es auch in einer vom Modell befreiten Kunst keine Formen geben kann, die nicht in irgendeiner noch so entfernten Weise mit der gegenständlichen Welt in Verbindung stehen. Gewiss, der rechte Winkel kommt in der Natur nicht vor, aber er gehört zur menschlichen Umgebung, seitdem die erste Hütte errichtet wurde, für die man vier Baumstämme in die Erde rammte. Mit Fenstern und Türen wurden Quadrate und Rechtecke elementare Bestandteile der menschlichen Existenz; als in Ägypten die glatten Pyramiden entwickelt wurden, weil sich auf ihnen in der Wüste der Sand nicht wie auf den Terrassen der Stufenpyramiden ablagern konnte, entstand im Dreieck der Inbegriff monumentaler Architektur. Sonne und Mond pflanzten in den Menschengeist die Vorstellung des perfekten Kreises und der Kugel, lange bevor sich der erste Mathematiker mit diesen Formen beschäftigte. In Gestalt der Wolken standen von Anbeginn sich unablässig verändernde Formen von scheinbarer Massivität bis hin zu schleierhafter Durchlässigkeit vor aller Augen.
So ist denn der Schritt der Maler des XX. Jahrhundert weg von Menschenbild und Landschaftsbeschreibung hin zu den nicht ohne weiteres der vertrauten Umgebung zuzuschreibenden Formationen weniger eine Entfernung von der Gegenständlichkeit, als eine Zuwendung zu ihren Bausteinen hin gewesen. Und auch diese Bausteine verlangen bei ihrer Evokation nach einer Farbverwandlung. Denn die Farbe an sich gibt es eben nicht, und die Farbe aus der Farbtube könnte so etwas in ihrer öligen Pastenhaftigkeit, oder, wenn sie verdünnt ist, Tintenhaftigkeit schon gar nicht sein. Farbiges Licht ist eben zu allererst Licht, farbiges Öl ist zu aller erst Öl, farbig lackiertes Holz ist zu aller erst Harz und Holz, die Farbe tritt zu diesen Substanzen hinzu, sie ist immer und ausschließlich die Eigenschaft einer Substanz und wird durch die Qualität ebendieser Substanz regiert. Nur in der Malerei gewinnt die Farbe Autonomie, sich von ihrer Materialität zu lösen und etwas anderes zu werden, Seide und Perle, Stein und Rauch und schließlich sogar das Unmögliche, das, was es in der Natur nicht gibt und nicht geben kann: die „reine Farbe“ zu suggerieren, den „Stein der Weisen“ in der Malerei.
Farbverwandlung in der Malerei von Hermann Wieliczek: hier wird man zuerst an seine mit Kugelschreiber weniger gemalten, sondern hunderttausendfach getüpfelten und gepünktelten Bilder denken. Sie sind in den Jahren 1968 bis 1972 entstanden, sie sind nicht groß – meist nur 20×20,5 cm, das größte Blatt, die Studie 10, 36×36 cm – und sie sind, bei höchstem Arbeitsaufwand in einer Zeit entstanden, in denen der junge Architekt in seinem Büro vermutlich ganz besonders gefordert war. Kostbarkeiten aus Kugelschreiber – auch dies ein verblüffender Widerspruch, denn der Kugelschreiber gehört zu den verachteten Allerweltswerkzeugen, ein Wegwerfartikel, weit entfernt von den anspruchsvollen und teuren Handwerkszeugen, die die europäische Malerei in den Jahrhunderten ihrer Entwicklung hervorgebracht hat.
Dabei vermag die Farbmasse, die aus dem Plastikröhrchen auf ein Stahlkügelchen fließt, zu faszinieren. Sie ist dickflüssig, glänzend wie Lack und Quecksilber; läuft sie aus, sind ihre Flecken unauflöslich und unentfernbar. Aber der Nachfluss der Farbe stockt gelegentlich, der Kugelschreiber wechselt im Gebrauch fortwährend zwischen allzu großer Flüssigkeit und Spröde; dass er die Handschrift verdirbt, ist nicht die Legende kulturkritischer Reaktionäre. Dass man damit etwas aufzeichnen kann, ist offensichtlich, aber dass man damit ein regelrechtes Gemälde mit einer geschlossenen Farbfläche erzeugen kann, das scheint eher schwierig. Und doch ist es Wieliczek gelungen, mit einem ganzen Strauß von Kugelschreibern in vielen Farben seine „Studien“ zu realisieren, die auf den ersten Blick unerhört dicht gemalten Gouachen gleichen – wobei das Wort „Studie“ in seiner Bescheidenheit bereits das Unzutreffende berührt, denn es handelt sich um bis zur letzten Vollendung getriebene Blätter oder Kartons. Schier unerschöpflich sind die Farbnuancen, die er den Kugelschreibern abringt, die es in vielen Farben geben mag, aber gewiss nicht in den Purpur-, Grau- und Rosa-Tönen seiner „Studien“. Um die Kugelschreiber-Farbpalette für seine Zwecke zu erweitern, hat er Punkt neben Punkt gesetzt – die einzige Möglichkeit, die Kugelschreiberpasten zu mischen. Das gibt den rechteckigen Farbfeldern – das reine Quadrat ist selten, diese vollkommene Form wird gleichsam umspielt, sie ist nur geistig gegenwärtig – eine einzigartige, nie vorher auf graphischen oder malerischen Arbeiten gesehene Struktur – man denkt an fein genarbtes Maroquinleder, an fein gehämmerte Bleche, an eine unerhört dichte Stickerei, an Haifisch-haut, an ein gestörtes, in Punkte zerfallendes, flimmerndes Fernsehbild, an einen nahen Blick in das Sternengewimmel der Milchstraße. Man sieht, an diesen Versuchen, die Farbmaterie der „Studien“ zu erfassen, wie sie zwischen Körperlichkeit und Unkörperlichkeit oszilliert, halb Lichtgebilde, halb hoch komprimierte Ballung. Wieliczek ist es gelungen, eine neuartige Materie zu erfinden, ihre Herkunft aus dem Kugelschreiber ist vollständig ausgelöscht.
Dieser Reichtum lässt auch vergessen, dass die Anregung zu solchen Rechteck-Kompositionen ihren Ursprung gewiss bei den streng zweidimensionalen Konstruktionen Piet Mondrians hatte, denn die unlösbar ineinander getriebenen Farbpünktchen besitzen eine Tiefe wie schwerer Rauch, die Rechtecke sind nicht Fläche, sondern pulsieren. Ihre Anordnung in kunstvoller Unregelmäßigkeit, verbunden mit ihrem Leuchten, lässt an eine innere Verwandtschaft mit den Aquarellen Paul Klees denken, die bei Wieliczek überrascht, der die Sphäre des Poetisch-Phantastischen eigentlich meidet. Und die Kugelschreiber-Studien tragen nicht nur in ihrer Farbmaterialität, sondern auch in ihrer Komposition ein Element ebendieser Sphäre in sich. Die größeren Blöcke bilden häufig den Rahmen; nach innen werden sie kleiner und umschlingen im innersten Kern ein winziges Feld, so wie die Steinmassen einer Pyramide in ihrem tiefsten Innern die Grabkammer umgeben, die in ihrer Proportion in keinem Verhältnis zu dieser opaken Steinmasse steht. Aber um ihretwillen wurden die hunderttausend Steinblöcke aufeinander gehäuft. So könnte man auch sagen: aus den Kugelschreiber-Studien blickt ein einzelnes rechteckiges Auge den Betrachter an, mit einer geradezu unheimlichen, hypnotischen Kraft.
Einen Schlüssel zu diesen Kompositionen hat Hermann Wieliczek möglicherweise in seiner „Studie 10/2 Metamorphose“ von 1972 liefern wollen. Gegen Ende der fünfziger Jahre hatte er seine Versuche mit der figurativen Malerei im engeren Sinn – Blumenstücke, Straßenszenen – beendet, nun kehrte er im Rahmen seiner Studien noch einmal zu einem Landschaftsbild zurück, allerdings in Form eines Diptychons, das die See- und Bergszenerie mit einer Rechteckkomposition im Sinne der vorangegangenen Kugelschreiber-Studien kombiniert. Dem Landschaftsbild – einem See im verschneiten Hochgebirge mit zwei kanuartigen Booten, die an Nordamerika denken lassen – steht eine Studie zur Seite, oder besser, das eine Bild geht in das andere über. Die auf mechanische Weise erzeugte Photographie wird durch ihre Umsetzung in Malerei – so wollen wir die Wieliczek-Technik hier der Einfachheit halber nennen – in ihrer Totheit verstärkt; eine Unwirklichkeit aus dem Reich der Schatten liegt unter dem betörend türkisfarbenen Himmel, der die Möglichkeiten dieser Technik zu einem neuen Triumph führt. Aber die abstrakte Tafel mit ihren Rechtecken ist in denselben Farben gehalten: das Schwarz der Berge, das Türkis von Wasser und Himmel, das Krapplack-Rot der Boote, ihr ockerfarbener Rand, das müde Violett der unverschneiten Berghänge – alle diese Farben erscheinen wieder in Rechteck-Gestalt und in dem Landschaftsbild vergleichbaren Massen; die beiden Tafeln sind in ihrer Gegensätzlichkeit sofort als zusammengehörig lesbar. Man kann sich vorstellen, dass die abstrakte Tafel die Landschaft wie durch eine unscharf gestellte Linse betrachtet zeigt, wenn sich die Farben der Gegenstände allein behaupten, ihre Grenzen aber verschwimmen – nur dass die abstrakte Tafel nun den leuchtenden Zauber besitzt, der den Farben jenes Leben zurückgewährt, das ihnen das mechanische Bild genommen hat. Ein einziges Mal hat Wieliczek hier das Geheimnis seiner Sehweise gelüftet – von hier aus kann man sich vorstellen, dass sich die Studien vielfach in eine gegenständliche Welt hinein entfalten könnten, die sie in sich tragen, aber als Konzentrat, als von den Akzidentien geläutert, gleichsam als Blick auf die Welt mit den Augen der Engel – auch Mondrian jedenfalls wäre eine solche Sichtweise nicht fremd gewesen.
II
Zu den frühesten Gebrauchsgegenständen der Menschheit, die mit Muster und Ornament versehen wurden, gehören die Teppiche, wie sie vor allem bei den Nomadenvölkern des Orients entstanden und dort immer noch gewebt und geknüpft werden. Ihre Muster sind vorzügliche Beispiele dafür, wie sich Schmuckformen aus Funktionen entwickelt haben – das Misstrauen gegen das Ornament entstand zu Recht in einer Zeit, in der das Ornament sich weitgehend von der Funktion eines Gegenstandes oder eines Bauwerkes emanzipiert hatte und nicht mehr aus dem Objekt und seinen Gebrauchseigenschaften herauswuchs, sondern nachträglich, ohne diese innere organische Verbindung hinzugefügt, ja aufgeklebt wurde.
Bei den Teppichen der Nomaden ergab sich das Ornament ganz einfach aus der Herstellung am Webstuhl oder dessen Vorformen: die straff gespannten Fäden von Kette und Schuss kreuzten sich in rechtwinkliger Exaktheit, wie sie mit den Händen und einfachem Werkzeug sonst nicht hervorzubringen war; der Teppich wurde so von Anfang an ein technisches Artefakt, das den Naturformen streng als Menschenwerk und Frucht der Vernunft entgegengesetzt war. Ganz früh kommt es zum Zweck der Kennzeichnung der Stoffe zur Verwendung verschiedenartig gefärbter Fäden, zu Karos und Streifen, die sich in immer reicheren Variationen dann entfalten sollten.
Für der Architekten des xx. Jahrhunderts haben die Teppiche Asiens aber eine besondere Bedeutung gewonnen. Das industrielle Bauen mit den neuen Baustoffen Stahl, Beton und Glas wandte sich von den klassischen Prinzipien europäischen Bauens ab, von den Elementen der Mauer, des Bogens, des Gewölbes, die sich aus einem Bauen mit Holz, Stein und Backstein ergeben hatten, und ließ sich von den Bauten Asiens inspirieren, die sich aus dem Zeltbau entwickelt hatten. Das große Zelt, wie es eine Nomadenfamilie, vor allem dann aber auch die wandernden Fürsten Innerasiens beherbergt hatte, bestand ja vor allem aus einem Stangengerüst, in das Teppiche als Wände gehängt wurden. In Fatehpur Sikri, der Residenz Kaiser Akbars des Großen waren nach dieser Auffassung Großbauten geschaffen worden, die aus steinernen Pfeilern bestanden, die man mit riesigen monolithischen Platten anstatt der Teppiche abschloss.
Le Corbusier hat diese Ruinen besichtigt und staunend die Prinzipien seines eigenen Bauens dort wiedergefunden, nur dass ihm statt der Monolithen aus rotem Sandstein nun die viel leichter herzustellenden Betonplatten zur Verfügung standen.
So ist der Nomadenteppich dem geistigen Prozess, der zum industriellen Bauen des XX. Jahrhunderts führte, gleichsam eingeschrieben; er muss als Form-Modell in Hermann Wieliczek, der einen großen Teil seiner Lebenszeit dem Krankenhausbau, also dem funktionellen Großbau gewidmet hat, urverwandt vorgekommen sein. Auf der Höhe des industriellen Bauens, das eine neue Epoche begründete, muss er das Bedürfnis entwickelt haben, in seiner Malerei gleichfalls ganz von vorn anzufangen. Der Begriff „Nomadenteppich“ steht für eine Kunst „vor der Kunst“, eine anonyme, ganz aus der Handwerklichkeit erwachsene Kunst, die von sich selbst noch kein „Kunstbewusstsein“ hat.
Die europäische Kunst hatte sich in den Jahrhunderten nach dem früheren Mittelalter immer weiter individualisiert; immer größer war die Forderung nach einer eigenen Handschrift der Künstler geworden. Doch jetzt hatten sich die Lebensumstände der Menschen, die über Jahrtausende im Kern gleich geblieben waren, grundsätzlich verändert, das war ein Einschnitt in der Geschichte, wie es Jahrtausende zuvor die Zähmung des Feuers gewesen war.
Die vornehmste Aufgabe der Kunst, so wie viele Künstler des XX. Jahrhunderts sie erkannten, war es, der Technik, die alle Lebensbereiche beherrschte, das ihr innewohnende ästhetische Gesetz abzulauschen, um sie in eine humane Dimension zu erheben, die ihr zunächst verschlossen schien. Um dieses Gesetz zu entdecken galt es, den eigenen Ausdruckswillen zunächst auszuschalten und sich vorgegebenen Regeln zu unterwerfen. Es galt das Experiment: was ergibt sich, wenn der Künstler einem Muster folgt, das der technischen Welt entsprungen ist – den Bauplänen des industriellen Bauens mit den neuen Materialien, den elektronischen Schaltkreisen, den Kurven des EKG, den Zeilen des Fernsehbildes, dem Raster des Millimeterpapiers, dem Strichmuster der Barcodes – graphischen Vorgaben also, die zunächst nicht nur keinen ästhetischen Aspekt haben, sondern in einer grundsätzlich außer-ästhetischen Sphäre angesiedelt sind, so fern vom Schönheitsgedanken wie der Sirius von der Erde. Und es zeigte sich, dass diese Zeugnisse der technischen Zivilisation keimhaft eben doch in der Menschheitsgeschichte verwurzelt waren – in ihrem Anfang nämlich; es war der Geist des Anfangs, der die alte Nomadentextil-Kunst mit den graphischen Notaten unserer Gegenwart verband. Wieliczek wurde nach seinen Kugelschreiber-Bildern in radikaler Abkehr von allem, was man früher Malerei genannt hätte, gleichsam zum Teppichweber – nur in Parenthese sei bemerkt, dass es sich wahrscheinlich lohnen würde, nach dem Vorbild seiner Studien etwa ab 1978 tatsächlich einmal Wandteppiche herstellen zu lassen. Es war, als ob er die Fäden eines Webstuhles spanne, als er mit dem Lineal die sich kreuzenden Linien auf den Hartfaserplatten zog. Eine Matte sollte entstehen, ihre Effekte sollten sich nicht absichtlich, vom Gestaltungswillen des Meisters hervorgerufen, sondern wie von selbst durch die Mischung der teils „überirdisch“ teils „unterirdisch“ verlaufenden Farbfäden ergeben.
Die Arbeit muss in verschiedenen voneinander getrennten Phasen verlaufen sein: zunächst das Ausspannen des „Faden“-Musters aus den sich rechtwinklig kreuzenden Linien. Sodann die Bestimmung der Farbpalette. Wieliczek hat eine Vorliebe für eine harte, auf den ersten Blick bunt wirkende Farbigkeit, die erst bei genauerer Betrachtung ihre feine Abstimmung offenbart. Es scheint, als wolle er bei oberflächlicher Betrachtung die Erwartung einer unsubtilen, „industriellen“ Farbigkeit befriedigen, die den erdhaften Abstufungen der klassischen Tonmalerei abgeschworen hat, der Farbigkeit der neuen Materialien wie Gummi, Plastik und modernen Lacken, die sich nicht mehr mit der Materie verbinden, sondern ihr aufsitzen – Farben, die nicht mehr naturhafte Eigenschaften der Materie sind, sondern ihr willkürlich gegeben werden können. Aber beim genauen Hinsehen erkennt man dann, wie kunstvoll die Farben aufeinander abgestimmt sind, diese etwa fünf Farben, zu denen Schwarz und Weiß hinzutreten. Jede Bildtafel hat ihre eigene Atmosphäre, und obwohl die Quantität in denen jede einzelne Farbe in ihrem Feld auftritt in einem komplizierten Gleichgewicht zu allen anderen Farben steht, wird jede dieser Studien zugleich von einer besonderen Farbstimmung regiert. Es gibt feurige Tafeln, frostig-kühle, dunkel-satte, geheimnisvolle und lichtklare. Es muss für den Maler selbst ein Erlebnis gewesen sein, wie sich aus dem intellektuell nachvollziehbaren Plan in der akribischen Ausführung dann ein stimmungshaftes Ganzes bildete, das kein Plan vorhersehen konnte. Das haben die Studien mit der Architektur gemeinsam, deren Pläne nur der großen eidetischen Begabung in ihrer Realisierung vorhersehbar sind; ein ausgeführter Plan ist stets etwas anderes, als er es auf dem Papier gewesen war.
Zu der Wirkung tritt aber hinzu, dass Wieliczek sein Linienraster nicht gleichmäßig über die Bildfläche spannt, sondern dass er die Linien der Bildmitte zu enger aneinander rücken lässt. Die Farbfelder werden immer enger zusammengestaucht und so entsteht eine Bewegung, oder besser, der Schein einer solchen – die von Illusionskunst und trompe L‘oeil denkbar weit entfernte konstruktive Malerei Hermann Wieliczeks besitzt ein beträchtliches illusionäres Potential. In den eigentlich trotz ihrer Unregelmäßigkeiten statisch konzipierten Kompositionen zieht es sich zusammen und entspannt sich wieder, wirft es sich auf und sinkt wieder ein, entstehen Verdichtungen wie ein Muskelkrampf unter Elektroschock und fließen dann wieder in regelmäßige Lockerungen hinüber. In diesen Studien bereitet sich Räumlichkeit ohne eigentliche Suggestion von Raum vor, die Tafeln scheinen sich zu wölben und zu wellen. Und immer wieder ist es, als steige in ihnen aus dunklen Fundamenten Licht auf: manchmal denkt man an farbige Neonröhren, die das Gitterwerk erhellen und ihm leuchtende Zentren geben.
Ab 1989 werden die Studien, die allmählich immer größer geworden sind und häufig schon die Maße 120×180 cm erreichen, die also in ihrer Höhe immer mehr in eine deutlichere Proportion zum Körper des Malers treten und von diesem körperlichen Gegenüber profitieren, in ihrer Ordnung immer tektonischer; es kommen jetzt Kompositionen vor, die einen regelrechten Sockel besitzen und von dort aus in die Höhe steigen, gleichsam aus einer Unterwasserzone der Sonne entgegenwachsen, oder in ihrem Herzstück eine Quelle des Lichtes tragen. Die Muster werden komplizierter – bleibt man bei der Vorstellung eines auf dem Boden ausgebreiteten Teppichs, würde der Schritt unversehens wie vor sich auftuenden Hindernissen innehalten, so als würde der Boden wie bei einem zugefrorenen See der Mitte zu dünner, als könne der darüber Gehende dort einbrechen. So gelangt Wieliczek in den neunziger Jahren schließlich dazu, die lange nur als schwebende Empfindung vorhandene Räumlichkeit nun ganz ausdrücklich zum Thema zu machen, allerdings auf seine Weise, nämlich nicht perspektivisch, sondern als Lichtphänomen. Er begreift seine Kompositionen nunmehr als gleichsam vorgefundene Objekte, die von von außen auf das Bild fallenden Lichtstrahlen getroffen werden – der Raum des Bildes setzt sich nicht in die Tiefe der Tafel fort, wie bei perspektivischer Malerei, sondern in den Luftraum außerhalb des Bildes, aus dem Blöcke farbigen Lichtes auf das Bild fallen – sie stammen aus der Sphäre, in der der vor dem Bild stehende Betrachter atmet. Diese Lichtblöcke verändern das Bild, das ein im Dunkel schlafendes Konstrukt ist, leblos und dumpf, und nun durch den Lichtbruch zum Leben erwacht und die eigentliche Natur seiner Farben offenbart. Es ist jetzt immer öfter, als hingen die Bilder in einem dämmrigen Zimmer und es falle durch die Schlitze der geschlossenen Fensterläden das heiße Sonnenlicht von draußen auf sie; das gibt den Bildern eine hochsommerliche, südliche Stimmung. Dies Sonnenlicht mischt sich ein und greift auch in die vorgegebenen strengen Raster ein, indem es sein eigenes Muster dagegensetzt. In wachsendem Maße lässt Wieliczek im Rahmen seines Lichtzaubers zwei einander entgegengesetzte Bildkonzepte aufeinanderprallen – man meint, die Lichtinterventionen von dem dunkleren Grund regelrecht ablösen und sie sich davon unabhängig vorstellen zu können.
Das Licht war es dann auch, das eine neue durchaus überraschende Phase im Malerleben Hermann Wieliczeks eröffnete. Bis dahin hatte er sich in einigen Sätzen des belgischen Konstruktiven Jo Delahaut von 1951 wiedergefunden:
„Ich meide das Unvorhergesehene, ich fliehe die Ungewissheiten des Zufalls, die Unbeständigkeit des Pinsels, die Laune des Augenblicks, die unbeabsichtigte Erregung seines Striches. Diese Erregtheit kann nur das Ergebnis einer genauen Berechnung sein. Die Logik zieht mich an. Improvisation erschreckt mich. Mir scheint, dass eine kluge Retusche den ersten Vorwurf übertreffen sollte. Ich betrachte die Unbefangenheit als eine gefährliche Gabe, kurz als einen Fehler, von dem man sich schnellstens befreien sollte.“
Wieliczek hatte in dieser programmatischen Äußerung des Älteren die eigene Abneigung gegenüber einer weit verbreiteten „Bauch“-Malerei bestätigt gefunden. Aber es geschähe nicht das erste Mal in der Geschichte der Kunst, dass ein lebenslanges eisernes Exerzitium schließlich zu Leistungen befähigt, die sich von einer Kunst der „Unbefangenheit“ und der Improvisation nicht unterscheidet – man denke vor allem an die Musik, an das harte kontrollierte Training der Pianisten, das gewisse Meister der Präzision in ihrem Alter instandsetzt, einen Ländler von Schubert oder Mozart in unschuldsvoller Frische zu spielen, als sei er ihnen soeben erst eingefallen. Etwa um die Jahrtausendwende ist es, als solle das Lineal, das bei Wieliczek bisher die Tätigkeit des Architekten mit der Malerei verband, nicht geradezu vergessen werden, aber als Erzeuger einer ästhetischen Atmosphäre in den Hintergrund treten. Die Verwendung von Farbstiften mit weichen Minen nehmen den nun entstehenden Studien den Charakter des Gedruckten, sie lassen die Erkennbarkeit der Handschrift zu, sie spielen mit dem Wechsel des festen Drucks auf den Stift, der satte Farbpasten hervorbringt und dem sanften Stricheln, das Farbschleier möglich macht. Jetzt lässt er ein leichtes Verschwimmen der Kontur zu; senkrechte Pfähle, deren Licht- und Schattentöne ihnen zuweilen perspektivische Körperlichkeit verleihen, sind in die rechtwinkligen Farbfelder hineingepflanzt und schaffen mit den GitterLicht-Phänomenen zusammen einen irrealen und widersprüchlichen Raum. Und schließlich wird sogar die Herrschaft des rechten Winkels zugunsten wellenförmiger Körper gebrochen, bis dann, in jüngster Zeit, ab 2011 etwa, sogar regelrecht „gemalt“ wird – man könnte versucht sein, in dreister Weise Wieliczek zitierend, „aus dem Bauch heraus“, wenn diese neuen mit dem breiten Pinsel und mit freier Hand entworfenen Kompositionen nicht auf dem sicheren Fundament der vorangegangenen exakten Kompositionen ruhten. Eine solche Entwicklung zeigt, wie gut es sein kann, alt zu werden, wenn es schließlich durch fortwährende Arbeit – dennoch spielerisch – gelingt, die Gegensätze zusammenzuführen, sie ineinander aufgehen zu lassen und damit den Weg für weiteres Fortschreiten zu bereiten.